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Medien-Bildung für alleSchule zwischen Bildungsidealen und wirtschaftlichen Interessenmit Unterrichtsvorschlag zum Thema Internetvon Matthias Nadenau, aus: Computer+Unterricht, Heft 42, 2. Quartal 2001*) Das Internet ist zu einem festen Bestandteil unserer Welt geworden - geradezu ein neuer Kontinent. Alles, was es auf den realen Kontinenten gibt, finden wir auf diesem virtuellen Kontinent wieder: Recht und Unrecht, Geschäftemacher und Idealisten, Wahrheit und Lüge. Das Internet ist nicht Technik pur, die wir vermitteln könnten, ohne gleichzeitig Werte zu transportieren, entweder offen und bewusst oder heimlich und vielleicht unbewusst. Unparteiisch informieren und gleichzeitig für eine menschliche Welt Stellung beziehen, das sollte oberstes Ziel auch bei der pädagogischen Arbeit im und ums Internet sein. Als 1995/96 auf Bundes- und Länderebene Initiativen gestartet wurden, um möglichst viele "Schulen-ans-Netz" 1) zu bringen, war das Ziel - zumindest auf dem Papier - klar: die Befähigung der Jugendlichen "zu einem differenzierten, kritischen und konstruktiven Umgang mit Multimedia und Telekommunikation" (NRW-Bildungsministerin Gabriele Behler). Um die notwendigen Ressourcen bereitstellen zu können, wurden von Anfang an Industrie und Wirtschaft mit ins Boot genommen. Dabei handeln die Sponsoren durchaus auch - und das ist nicht negativ - eigennützig. Wer in der Schule eine bestimmte Software oder einen bestimmten Internet-Provider kennen lernt, wird sich in diesem technischen Umfeld sicher fühlen und es zu Hause und später am Arbeitsplatz bevorzugen. In den zurückliegenden fünf Jahren haben die Schulen ihre Hausaufgaben gut gemacht: Die Lehrer mussten sich erst einmal selbst mit dem Internet und seiner Technik vertraut machen. Der sich ergebende Fortbildungsdruck ist eine erhebliche Mehrbelastung. Paradoxerweise sorgten die gleichen Bildungspolitiker, die die Integration der neuen Medien in die Schule forderten, durch die Anhebung von Klassenfrequenzen und Stundendeputaten für eine weitere zusätzliche Belastung der Lehrkräfte und behinderten so den Einstieg der Schulen ins Netz. Von vornherein war klar, dass der eine Internet-PC pro Schule, der von "Schulen-ans-Netz" gefördert wurde, allenfalls ein erster Schritt sein konnte. Um die Online-Kosten in Grenzen zu halten, setzten die Schulen sehr bald auf Intranets mit Proxy-Servern für die Internet-Einwahl. Da - abgesehen von Ausnahmen - Netzwerktechniker in den Schulen nicht verfügbar waren, mußten auch hier wieder Lehrer einspringen und diese Netze bei - wenn überhaupt - geringer Unterrichtsentlastung konzipieren, einrichten und administrieren.Unter diesen Bedingungen konnten sich die Bemühungen oft nur auf den gerade nächsten Schritt und das gerade aktuelle Problem konzentrieren. So gibt es im Bereich der neuen Medien viele interessante und wirklich gute Projekte, aber kaum übergreifende Konzepte: Welche Kenntnisse und Fähigkeiten in Sachen Computer-Internet-Multimedia sollen unsere Schülerinnen und Schüler erwerben und welche Methoden und Werkzeuge bieten sich dazu besonders an? Neue Medien und BildungIn Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Bildungsideal herausgebildet, das wesentlich darauf abzielt, Individuum und Gesellschaft, soziales Handeln und Förderung von Leistung, Praxisbezug und Abstraktion im Gleichgewicht zu halten:
Wie nun passen diese pädagogischen Ziele mit dem Lernfeld „Neue Medien“ zusammen? Ich will versuchen, Kriterien zu benennen und Vorschläge zu machen: AllgemeinbildungGerade unter dem Aspekt der Allgemeinbildung ist die schnelle technische Entwicklung der neuen Medien eine Herausforderung für die Schule, nicht nur in finanzieller und technischer Hinsicht. Lernt heute ein Gymnasiast in der 9. Klasse die Benutzung eines aktuellen Programms, so ist eigentlich sicher, dass er diesem Programm in seinem Berufsleben - nach weiteren vier Jahren Schule plus vier Jahren Studium oder Berufsausbildung, also nach insgesamt acht Jahren - nicht mehr begegnen wird. Im günstigsten Fall wird er auf eine Nachfolgeversion treffen, die mit der Version, die er als Schüler kennen gelernt hat, nur noch wenig offensichtliche Gemeinsamkeiten hat. Zur Veranschaulichung: Die Freigabe des World Wide Webs durch CERN fand am 30. April 1993 statt, also vor fast exakt acht Jahren (das Internet an sich existiert natürlich schon länger). Den Netscape Navigator (Version 1.0) gibt es erst seit dem 15. Dezember 1994. In dieser Situation ist es ganz besonders wichtig, den Schülerinnen und Schülern ein Verständnis der Grundprinzipien zu vermitteln, da dieses Wissen sehr viel langsamer veraltet und mehr Flexibilität verleiht als reines Anwendungswissen. Der C64- oder DOS-Experte vergangener Jahre (bzw. Jahrzehnte) wird sehr schnell verstehen, weshalb ein 200kByte-Bild bei der Entwicklung einer Homepage auf dem heimischen Rechner kein Problem ist, aber zum "Seitenkiller" wird, sobald die Seite im Netz steht. Anders als der MByte-verwöhnte "Computer-Freak" des Jahres 2000 hat er nämlich gelernt, mit Bits und Bytes zu rechnen. Viele interessierte Jugendliche aus der "clicking generation" gehen ohne Scheu mit Computer, Internet und den dazugehörigen Fachbegriffen um - und das ist auch gut so. Doch sie verfügen trotzdem oft über wenig Grundlagenwissen, da moderne Computersysteme in dieser Hinsicht wenig Anschauung bieten. Sollen unsere Schüler also im Hinblick auf die angestrebte Allgemeinbildung stets mit möglichst aktueller Software arbeiten, oder ist zum Verstehen ein Weg des genetischen Lehrens und Lernens günstiger? Dazu ein Beispiel aus dem Fach Informatik: Ein genetischer Unterrichtsgang könnte von den für Basic und Assembler typischen „linearen“ Programmen über Prozeduren nach Pascal-Art zum objekt-orientierten Programmieren in Delphi oder Java führen. Ein anderer Weg besteht darin, die Schüler von Anfang an auf objektorientiertes Programmieren zu trainieren. Welcher Weg ist nun besser? Gründliche Untersuchungen wären hier notwendig, um Glaubenskämpfe zu vermeiden. Was also sind die Grundlagen des Internets, die unsere Schülerinnen und Schüler verstehen sollten. Ein Teil dieses Grundlagenwissens ist technischer und organisatorischer Art. Aber auch die Idee des freien Informationsaustausches, die Tim Berners-Lee bei der Entwicklung des Webs geleitet hat (siehe z.B. Berners-Lee 1999), gehört zu diesen Grundlagen. Die Idee des freien Informationsaustausches ist z.B. wesentlich mitverantwortlich dafür, dass das Web für kommerzielle Anwendungen mit hohen Sicherheitsanforderungen schwer zu nutzen ist. Thema Internet - ein UnterrichtsvorschlagWeil der Unterrichtsgegenstand Internet in seiner Komplexität so kompliziert ist, muss der Zugang unbedingt handelnd geschehen. Hier ein Vorschlag für einen entsprechenden Lehrgang: Ziele: Die Schülerinnen und Schüler ...
Der Lehrgang läßt sich nach Bedarf und Interessenlage leicht erweitern. So bietet sich für Kunstinteressierte eine vertiefte Behandlung von Webdesign an. Und wenn Programmieren gelernt werden soll, kommen u.a. Javascript, Java und die dynamische Generierung von HTML-Seiten in Betracht. Anzumerken ist noch, dass dieser Lehrgang (bis auf die Betriebssysteme DOS, Windows und MAC-OS - sofern sie benutzt werden) vollständig mit frei verfügbarer Software durchgeführt werden kann. Das sollte eine gute Vorraussetzung dafür sein, dass interessierte Schüler auch nach Abschluß der Unterrichtsreihe weiter „an der Tastatur“ bleiben. Es veranschaulicht aber auch, wie viele Software-Produkte mit professionellem Niveau frei verfügbar sind 4). Entfaltung individueller FähigkeitenOft gelingen gerade Schülerinnen und Schüler, die in den traditionellen Schulfächern wenig Erfolgserlebnisse haben, im Computerbereich außergewöhnliche Leistungen. Die Multimedia-Optionen moderner Computer eröffnen aber auch in den klassischen künstlerischen Gebieten Musik, Bild und Text ganz neue Möglichkeiten. Einen Text, etwa eine Kurzgeschichte, handwerklich sauber zu veröffentlichen, ist in den Zeiten des WWW jedem möglich. Mit moderner Computertechnik - ob MIDI und MP3 im Internet oder eher klassisch per selbstgebrannter CD - steht auch der Veröffentlichung eigener Musikstücke nichts mehr im Wege. Ob und unter welchen Bedingungen die von Amateurkünstlern ins Internet gestellten Werke die Öffentlichkeit tatsächlich erreichen, ist allerdings eine andere Frage. Nun nutzt die beste Software nichts, wenn Grundlagen der bildlichen oder textlichen Gestaltung missachtet werden. Im Gegenteil: Wer des öfteren durch das Web surft, kennt diese Internetseiten, bei denen die Möglichkeiten der Software voll ausgenutzt wurden und mehr oder weniger gelungene Effekte den eigentlichen Inhalt in den Hintergrund drängen 5). Hier können Unterrichtsfächer wie Kunst und Musik weiterhelfen. Wie bei keinem anderen Lerngegenstand der allgemein bildenden Schule sind bei Computer und Multimedia die individuellen Fähigkeiten mit den eingesetzten Werkzeugen verbunden. Um die Chancengleichheit nicht zu gefährden, sollten die benutzten Software-Lizenzen so beschaffen sein, dass Schülerinnen und Schülern die Software auch zu Hause - eventuell gegen einen geringen Unkostenbeitrag - einsetzen dürfen 6). Wenn der alte Satz, dass man in der Schule fürs Leben lerntl, auch im Zeitalter des Computers weiter gültig bleiben soll, müssten die Lizenzen für Schulsoftware sogar so gestaltet sein, dass die Schülerinnen und Schüler die Programme auf Dauer privat nutzen dürfen Andernfalls könnte der Fall eintreten, dass Softwareunternehmen zwar als Schulsponsoren auftreten, indem sie Programme für die Schulrechner kostenlos zur Verfügung stellen, dieses Sponsoring aber de facto von Eltern finanziert wird, die die Programme teuer erstehen, damit ihre Kinder das Gelernte zu Hause weiter einüben bzw. nutzen können 7). Es wäre gut, hier ähnlich wie bei Klassenfahrten Höchstgrenzen und zusätzlich Lizenzkonditionen per Erlass festzulegen, um einem falsch verstandenen Wettbewerb zwischen den Schulen auf diesem Gebiet einen Riegel vorzuschieben. Gebunden durch geringe finanzielle Ressourcen und mit dem Wunsch, ihren Schülern einen zeitgemäßen Unterricht am Computer anzubieten, sind die einzelnen Schulen ansonsten dem Wohl und Wehe der Software-Industrie hilflos ausgeliefert. Freie Software bzw. Public-Domain-Software erweist sich hier als Idealfall für die Schule. Ihre Entwicklung und Nutzung sollte besonders gefördert werden. Das könnte z.B. durch Wettbewerbe geschehen, bei denen Lehrer und Schüler aufgefordert sind, Unterrichtsmodelle unter Nutzung freier Software zu entwickeln. Leider trauen sich aber nur wenige Lehrer an die didaktische Erprobung von Programmen, die außerhalb des Software-Mainstreams liegen. Die Überlastung durch zu hohe Klassenfrequenzen und angehobene Unterrichtsdeputate fördert sicher die Tendenz, sich nur auf das populärste Programm zu verlassen und Experimente möglichst zu vermeiden. Das hat sogar seine Auswirkungen im Server-Bereich: Linux - so mein Eindruck - kann sich in der Schule nur mühsam durchsetzen, weil viele der als Systemadministatoren tätigen Lehrer unter besonderem Zeitdruck stehen und sich einfach sicherer fühlen, wenn sie am Server die gewohnte Windows-Oberfläche ihres Arbeitsplatz-Rechners wiederfinden. Haben sie sich einmal an die eigentlich leichte und in sich schlüssige Bedienung eines Linux-Servers gewöhnt, sehen sie dies dann in fast allen Fällen ganz anders. Bereitschaft und Fähigkeit zur kritischen und gleichzeitig konstruktiven Mitgestaltung unserer demokratischen GesellschaftDie für den normalen Nutzer wichtigsten Dienste im Internet sind sicherlich E-Mail und das (Surfen im) WorldWideWeb. Im Web ist eine Idee verwirklicht worden: Über Computersystemgrenzen und eher nebenbei auch über Landesgrenzen hinweg können Menschen als Publizierende und Rezipierende an einem öffentlichen Kommunikationssystem mit hohem technischen Standard teilnehmen, ohne auf technisches Expertenwissen zurückgreifen zu müssen. Es ist kein Zufall, dass diese Idee an einem der weltweit größten Forschungsinstitute für Hochenergiephysik, dem CERN in Zürich, entwickelt und realisiert wurde und nicht durch eine der großen Software-Firmen. Inzwischen hat sich das Web von einem Wissenschaftsnetz zu einem Netz für alle entwickelt, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. Aber es gibt nach wie vor viele Websites, auf denen einzelne oder auch Gruppen qualitativ hochwertige Informationen aus ihren Spezialgebieten zusammengetragen haben und frei zur Verfügung stellen. Hier exemplarisch drei schulrelevante Links, die dies belegen:
Wo das Web zukünftig aussehen wird im Spannungsfeld zwischen Kommerzialisierung und Selbstdarstellung einerseits und freiem Informationsaustausch andererseits, entscheiden wir alle mit. Hier liegt auch eine wesentliche Erziehungsaufgabe der Schulen. Motivieren wir unsere Schülerinnen und Schüler dazu, Websites nicht nur zur Selbstdarstellung, sondern vor allem auch zur freien Informationsweitergabe zu nutzen! Möglichkeiten für unsere Schul-Websites gibt es da viele: Erfahrungsberichte zu neuen Unterrichtsthemen, Veröffentlichung von im Unterricht erstellten Umweltuntersuchungen, Aufgabensammlungen und Arbeitsblättern oder Orts- und Denkmalführer für den Schulort - um nur einige Beispiele zu nennen. Anmerkungen1 Ich erlaube mir im folgenden, all die verschiedenen lokalen, regionalen und über-regionalen Initiativen, die es zu diesem Thema gibt und gab, insbesondere auch die aktuelle e-nitiative in NRW, unter dem Begriff Schulen-ans-Netz-Bewegung zusammenzufassen. * Da der Aufsatz nun schon recht alt ist, stimmen die meisten ursprünglich vorhandenen Links nicht mehr. Bis auf zwei habe ich deshalb alle entfernt. (Nachtrag 2012) LiteraturBerners-Lee, Tim: Der Web-Report, Econ-Verlag, München 1999. |